Sarajevo. Bosnien.
14 Tage/6 Wohnungen/6 Profile
Die folgenden sechs Menschenbilder sind Splitter des heutigen Sarajevos. Ausschnitthaft beschreiben sie einen Teil der sozialer Realität, dieser vom Krieg gezeichneten Stadt. Ermöglicht hat diesen intimen Einblick das christliche Sozialprojekt "Friedensweg". Unter diesem Motto bringt der Geistliche Meinolf Wacker seit 1996 deutsche Jugendliche und junge Erwachsene, mit bosnischen zusammen um gemeinsam die materiellen und seelischen Verwüstungen durch Krieg und Gewalt zu überwinden. (www.friedensweg.net) Über zwei Wochen arbeiteten im Juli 2009 Kamener Firmlinge zusammen mit bosnischen Jugendlichen in verschiedene Projektgruppen, um Wohnungen und Häuser bedürftiger Menschen zu renovieren. Alle Portaits entstammen dieser Kooperation.
Branislav Doležal begann sein Leben als Kämpfer. Im Alter von vier Jahren in den Ausläufen des Zweiten Weltkrieges fiel seine Mutter auf die noch weichen Knochen ihres Sohnes und quetschte ihm das Rückrat. Kurz darauf verstarb sie an den traumatischen Folgen dieses Sturzes und hinterließ einen ab der Hüfte gelähmten Jungen, der scheinbar ohne Perspektive auf ein erfülltes Leben bei seinen Großeltern aufwachsen sollte. Während Branislav von dieser Geburtsstunde seines jetzigen selbst erzählt, grinst er breit übers ganze Gesicht und es wird schnell klar, dass Pessimismus und Selbstaufgabe für ihn nie wirklich eine Option gewesen waren. Der Junge aus dem Zentrum von Sarajevo erholt sich, wenn auch schleppend, und spielt schließlich als Jungendlicher unter dem Namen „Hinkefuß“ mit den jüngeren Kindern Fußball.“ Ich musste immer ganz tief in die Knie gehen, um meinen Rücken zu entlasten“ erklärt er, erhebt sich vom Bett und durchmisst auf eine Krücke gestützt die paar Meter seines Schlaf- und Wohnzimmers. Branislavs Vater gründet abseits dieser Geschehnisse mit einer anderen Frau eine neue Familie und so finanzieren Oma und Opa unter extrem schwierigen materiellen Vorrausetzungen die Ausbildung zum Modellbauer. Branislav war dankbar, wollte aber mehr, holte nebenbei in Abendstunden seinen Mittelschulabschluss nach und schloss eine weitere Lehre als Werkzeugingenieur ab. Seine Großeltern sollten nicht mehr erleben wie er einen Arbeitvertrag bei FAMOS, Sarajevos größtem Hersteller von Maschinenmotoren, unterschreibt. „Ich musste als Invalide immer doppelt so hart arbeiten wie alle anderen, mich immer doppelt beweisen“, sagt er nicht ohne Stolz und fügt hinzu, dass seine Festanstellung damals mit einem erheblichen Prestige verbunden gewesen sei.
Doch seine relative Gesundheit sollte ihm nicht lange erhalten bleiben. Prostatakrebs und eine erneute Verschlimmerung seines Rückenleidens sollten ihn in die Frührente zwingen und mehrere komplizierte Operationen nach sich ziehen. Als im Jahre 1992 der Krieg in Sarajevo ausbricht, kommt er mit seiner Gehhilfe gerade mal bis auf den Bürgersteig vor seiner Wohnung. Sein Invalidenpass, der ihn vom Militärdienst freistellt, bescheinigt ihm eine hundertprozentige Arbeitsunfähig Er hat keine Chance zu fliehen, als das Gebiet von Serben besetzt wird. Noch heute schreckt er nachts auf wenn etwas gegen das Geländer seines Bauklotzes schlägt, erwartet das militärische Klopfen an der Tür, weint, wenn es wieder Krieg im Fernsehen gibt. Er nennt sie ohne jede Bitterkeit seine Physiotherapeuten. Sechs mal wurde er in diesen vier Jahren ins militärische Hauptquartier abgeführt, über Stunden verhört und schwer misshandelt. Da er nicht arbeitsfähig war, bekam er lediglich genug zu Essen, um langsam zu sterben. Den Rest besorgten Nachbarn. Seitdem ist Branislav nie wieder ohne Stock gegangen.
Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich von da an weiter bis er schließlich ab 2005 erneut ans Bett gefesselt war. Ob er Freunde und Bekannte hat, frage ich ihn. Wieder grinst er. „Alle, die mir je etwas zu Essen vorbeigebracht haben, sind meine Freunde, jeder der mir je geholfen hat, aber die meisten verschwinden, wenn man weder Bier noch Zigaretten im Haus hat“. Gekocht hat er für sich allein. Auf die Toilette ist er über den Boden gerobbt und für das Überwinden des Badewannenrandes benötigte er jeweils eine halbe Stunde. Die Caritas besuchte ihn einmal im Monat. Ich will wissen, was er die restlichen geschätzten 5470 Stunden, die er die letzen dreieinhalb Jahre nicht schlief, gemacht hat. Er deutet mit einer Handbewegung auf seinen Fernseher. „Ich liebe Fußball, mein Vater war Schiedsrichter“.
Branislavs zweiunddreißig Berufsjahre bringen ihm heute eine Pension von 295 KM ein. Eine Untersuchung bei einem privaten Internisten kostet ihn 70KM; Blutentnahme und Medikamente 50 KM. Ein Gesetz, welches ihm eine zusätzliche soziale Unterstützung zusicherte, wurde vor kurzem abgeschafft. Branislav ist nicht nachtragend. Seit einem Monat läuft er wieder die paar Schritte durch seine Wohnung.
Katarina Verić weiß was es bedeutet; einsam zu sein. Als sie heute Morgen aufwachte; hörte sie die Stimme ihres Cousins. „Tetka“. „Tantchen“. Sie steht auf; um sich einen Kaffe zu machen. Die Wohnung im fünften Stock ist leer. Letzte Nacht hat sie fast gar nicht geschlafen. Der Sicherungskasten war mal wieder defekt. Über eine Stunde balanciert die 72 jährige Frau auf einem wackeligen Holzstuhl um die uralten Porzellanröhren zu wechseln. Der Elektriker von unten hat seit langem versprochen mal nach dem Rechten zu sehen, ist bis jetzt aber noch nicht aufgetaucht. Seid 22 Jahren lebt sie allein. Ihre Hände sind arthritisch, wogegen das Muschelgranulat aus deutscher Produktion nur wenig ausrichten kann. Sie hat zwei Gallensteinentfernungen hinter sich, die ihr das Sozialamt finanzierte. In ihrem Körper wächst ein gutartiger Tumor. Noch bereitet er ihr keine Schmerzen. Sie hat noch einen Bruder in Kroatien, aber die hundert Mark für die Busfahrt kann sie von den 296 KM im Monat kaum einsparen und außerdem ist sie nicht mehr sehr gut zu Fuß. Sonntags geht sie in die Kirche. Eine Freundin telefoniert häufiger mit ihr. Besuchen können sich die beiden aber aus gesundheitlich Gründen nicht. „Mein einziger Freund ist mein Radio“, sagt sie mit einem sanften Lächeln. Aber dem bleibt sie treu und ruft prompt beim lokalen Sender an, um sich für unseren Renovierungstrupp einen Song zu wünschen. Sie kocht Suppe, tischt uns zuckersüßen Mandellikör auf und liest uns die Zukunft aus den Füßen. Eine Omi wie im Bilderbuch. Nur eben ohne eigene Enkel. Wovor sie sich am meisten fürchtet? Ein Nachbar von ihr starb allein in seiner Wohnung. Als er nach einem Monat gefunden wurde war sein Körper von Maden zerfressen. Sie verzieht das Gesicht. „Das ist keine Art wie ein Mensch sterben sollte“ Sie hat viel zu erzählen, hat viel gesehen. Ihr Haus liegt direkt an der Frontlinie. Dem Teil der Stadt der zwischen 1992 bis 1996 von Serben besetzt war. Die Einschusslöcher in der Hauswand sind stumme Zeugen der Zerstörungswut, die die Menschen Nacht für Nacht in die etwas sichereren Kelleretagen trieb. Immer noch ist ein Großteil der Wohnungen ausgebombt, der Ruß an den Wänden noch nicht übergestrichen. Das einzige was die Granaten hinter den vernagelten Wohnungstüren zurückgelassen haben, ist das Chaos zerstörter Existenzen. Katarina erzählt, dass allein in ihrem Wohnblock um die 160 Menschen gestorben sind. Sie musste selbst mit ansehen, wie drei davon beim lebendigen Leibe verbrannten. Weil das Wasser knapp war, schnitt sich Katarina ihre Schwarzen Haare ab, um sich vor Ungeziefer zu schützen. Als sie nachwuchsen waren sie grau.
An der Stelle, wo ein Projektil das Glas durchlug, klafft noch heute ein handgroßes Loch im Küchenfenster der alten Dame. Im Winter ist es hier sehr kalt. Katarina hat es gelernt, mit den materiellen Widrigkeiten in ihrem Leben umzugehen. Seit eine Agentur für Grafikdesign die Kellerräume der Hausbewohner besetzt hat, zahlt sie die monatliche Instandsetzungsgebühr nicht mehr. Sie kann gut haushalten und hängt sehr an ihren Habseligkeiten, die sie mit Argusaugen überwacht. Sie füllt ihren Tag mit den kleinen Haushaltsaufgaben, die ihr noch bleiben oder sitzt eben vor ihrem Radio. Bevor wir gehen zeigt sie uns ein Fotoalbum mit Bildern aus Deutschland, wo sie eine zeitlang in Nürnberg lebte. Katarina verabschiedet uns wie alte Freunde mit einem dicken Kuss auf die Wange und wartet noch an der Tür bis sie uns durch den Spalt im Treppengeländer nicht mehr sehen kann. Sie ist eine Frau, die noch sehr viel zu geben hat. Ein liebevoller Mensch, den scheinbar niemand braucht.
Familie Makaš lebt in einer Kellerwohnung auf den Berghängen im Osten von Sarajevo. Das Ehepaar und die drei Kinder teilen sich eine offene Wohnküche, zwei Zimmer und ein kleines Bad. Das fahle Licht fällt durch die Eingangstür auf die durchgesessene Schlafcouch . Der flimmernde Fernseher lässt das Gesicht von Samir grau und müde aussehen. Fenster gibt es hier keine. Seine Frau ist noch bis halb vier auf der Arbeit. Sie putzt für 400 KM monatlich und ernährt damit so gut es geht die ganze Familie. Er selbst hat seit 1998 nicht mehr gearbeitet. Mit hängenden Schultern schiebt er mir ein Dokument über den Tisch und wechselt ein paar kurze Worte mit seiner Tochter Jasmina, die darauf blitzschnell aus dem Zimmer verschwindet. Mein treuer Übersetztet Vlatko erklärt mir, dass es sich um eine Bescheinigung der kroatischen Armee handelt, die ihm finanzielle Unterstützung für Wohnung, Arztkosten und kleinere Ausflüge garantiert. Aber eben oben und nicht hier in Bosnien. Mit oben meinet er Kroatien, das Land in das die Familie 1992 vor dem Krieg flüchtete. Seine Eltern blieben, worauf sein Vater in den folgenden Jahren in ein Internierungslager der Serben verfrachtet wurde. Entsetzlicher Hunger, Seuchen, Misshandlungen, Massentötungen. Die deutsche Abkürzung „KZ“ fällt. Der Vater überlebt den Krieg, stirbt aber schließlich 1998, worauf Samir mit seiner Frau Ana beschließt, nach Bosnien zurückzukehren, um seiner ebenfalls kranken Mutter beizustehen. Ob er diesen Schritt manchmal bereue, möchte ich wissen. Er lacht ohne jede Freude. Für seine Mutter sei das damals wohl sehr wichtig gewesen, aber er wolle nur, dass seine Kindern glücklich seien, sodass kein Tag vergehe an dem er sich nicht wünscht in Kroatien geblieben zu sein.
Wie auf Kommando kehrt Jasmina mit ihrem Bruder Denis zurück. Der kleine Blondschopf mit den blauen Augen zeigt mir ein paar durchlöcherte Turnschuhe. „Damit muss er nächste Woche wieder in die Schule gehen“, sagt Samir. Er selbst habe sich seit Jahren keine Hose und kein T-Shirt gekauft, alles was er spare sei zum Wohle seiner Kinder. Wie ein Schatten huscht Jasmina an der Sofaecke vorbei, stellt vor ihrem Vater ein Bier und eine Schachtel Zigaretten auf den Tisch und setzt sich still mit gesenktem Kopf in die Ecke. Ein Spendenaufruf sei im Gespräch gewesen, als die letzte deutsche Gruppe vor zwei Jahren die Wohnung renovierte, dass müsse wohl im Sand verlaufen sein. Ich frage, ob ich mich ein bisschen mit den Kinder unterhalten könne, was Samir enthusiastisch bejaht. Jasmina erschrickt. Ich erzähle kurz von der alljährlichen Schuhkartonaktion, in dessen Zusammenhang Gemeinden in Deutschland kleinere Weihnachtgeschenke an die Menschen schicken, mit denen wir in Bosnien arbeiten und möchte wissen ob sie irgendeinen Wunsch habe. Jasmina richtet den Blick auf ihren Vater. Nach einer kurzen Diskussion antwortet sie, ihr einziger Wunsch sei zurück nach Kroatien zu gehen. Keine Barbiepuppe, kein neues T-Shirt, kein Urlaub am Meer. Vlatko bestätigt meine Eindruck, indem er mir das Gespräch später übersetzt. Mit einem mulmigen Gefühl lassen wir uns die beiden Kinderzimmer zeigen. Samir folg uns. Jasmina erzählt sie gehe gern in die Schule, komme jetzt in die achte Klasse und tanze gerne bosnische Folklore. Ihre beiden Brüder seien leidenschaftliche Fußballer und nehmen zudem Boxstunden. Ich frage, ob sie hier einen festen Freundeskreis habe und ob es schwierig für sie sei, dass sie sich nicht die neusten Klamotten kaufen könne, wie andere Kinder. In der achten Klassen kann das in Deutschland einen schon mal zum Außenseiter machen. Wieder wird sie unsicher und blickt fragend in Richtung ihres Vaters. Er nickt. Nein, das sei nicht so ein Problem, sie habe hier viele Freunde aber sie wünsche sich trotzdem, zurück nach Kroatien zu ziehen. Im Hintergrund spielen die beiden Brüder an einem alten Computer „Grand Theft Auto“. Sie rasen mit schnellem Autos durch Amerikas Großstädte und rauben aufgeschreckte Passanten aus. „Ein Geschenk eines Nachbarn“, erklärt Samir. Ansonsten ist der Raum fast vollständig leer. Nur ein paar Spielzeugsoldaten und eine grüne Wanduhr, in form einer Maus erinnern an ein Kinderzimmer. Jasmina drückt sich gegen die Wand. Wir verstehen wie schwierig die Situation für sie sein muss und beschließen zu gehen. Noch ein Familienfoto dann stehen wir wieder im Freien.
Armut verändert die Menschen und zwingt sie ins Extrem. Die Sorge um die nackte Existenz lässt die Liebe für die, die einem am nächsten stehen, in bizarre Formen fließen. Die Aussicht auf ein besseren Leben verklärt den Blick auf die momentane Realität, was vor allem diejenigen zu spüren kriegen, die sie am wenigsten beeinflussen können.
Margareta Luburić war vor dem Krieg so etwas wie ein Star. Die vergilbten Fotos, die sie in einem zerfledderten Geschichtsbuch aufbewahrt zeigen eine attraktive junge Frau mit hochtoupiertem blonden Haar und einem herausfordernden Lächeln. Sie arbeitete als Regisseurin für das bosnische Fernsehen. In der ersten Liga, wie sie erzählt, schrieb sie die Skripte für diverse Musikdokumentationen und Kindersendungen. Jetzt besitzt sie nicht mal mehr einen Videorecorder. Seit fünf Jahren hat sie ihre alten Produktion nicht mehr gesehen, die jetzt im Schrank verstauben. Ihr artistische Wesen scheint lediglich in ihrem Hang zu bunten Farben und etwas schriller Kleidung überlebt zu haben. Ihr kreativer Geist wurde auf Eis gelegt.
Margareta ist nervös. Immer wieder springt sie von ihrer Schlafcouch auf, ereifert sich wütend über den zunehmenden Einfluss der islamischen Bevölkerung in Sarajevo und deutet dabei auf einen renovierten Häuserblöcke und eine Moschee, die Unweit ihres Apartments stehen. Sie ist wütend auf die Politik, die Moslems, die Serben, die Amerikaner in Afghanistan und die ehemalige Arbeitsstelle ihre schwerkranken Schwester, die sie nicht annährend ausreichend versorgen. Seit sie eines Tages im Jahr 1992 vom serbischen Leiter ihrer Produktionsfirma fristlos entlassen wurde, fühlt sie sich ihres Lebenssinns beraubt. Vergleicht man ihren Lebensstandart mit dem von anderen älteren Menschen, die wir in unserer Zeit in Sarajevo besucht haben, steht sie vergleichsweise gut da. Lässt man sie allerdings erzählen, von der Zeit als sie noch nach Australien flog um sich mit ihren Kollegen auszutauschen, oder sogar mal ein Angebot aus Hollywood ins Haus stand, wird deutlich, dass ihr mehr genommen wurde als ein gutes Auskommen. Margareta wurde sozial und kulturell demontiert.
Mit zitternden Händen gießt sie den türkischen Kaffe in die kleinen Gläser und verschwindet kurz in ihrem Wohn- und Schlafzimmer. Sie kehrt mit zwei in Leder gefassten Schriftrollen zurück, die ihre Hände krampfhaft umklammern. „Beskorisni“. „Wertlos“. Sie ist gebildet, hat so gut wie jede slawische Sprache studiert, Philosophie und Literatur und mit Diploma abgeschlossen. Als ihre Stelle neu besetzt wurde hat man ihre Arbeit unter anderem Namen ins Ausland verkauft. Sie versuchte noch mal als Kosmetikerin und Heilpraktikerin Fuß zu fassen, scheiterte aber an der aussichtsloslosen Arbeitssituation. Sie jetzt um die 60 und ohne Perspektive. Ihr letzter Bezug ist ihre Schwester, die mit multipler Sklerose ans Bett gefesselt ein menschenunwürdiges Dasein fristet. Margareta opfert ihre letzte Kapazitäten für die Pflege dieser Frau kann aber keine vierundzwanzigstündige Versorgung leisten. Sie beißt sich auf Lippen als sie erzählt, dass ihre Schwester den ganzen Tag auf dem Rücken liegen muss um ihr Bett nicht mit Fäkalien zu verschmutzen. Ihr Stiefsohn ist Arzt, könne sich aber nicht kümmern, da er als Kroate in einem „islamischen“ Krankenhaus in Sarajevo keine Anstellung bekommen habe. Die 50 Kilometer zu seiner Heimatstadt fährt er zweimal die Woche.
Margaretas Intellekt ist noch recht klar. Aber immer wieder springt sie in Mitten des Gesprächs zwischen verschiedensten Themen hin und her, stellt Vermutungen an über amerikanische Spione in ihrer Umgebung und verschwörerische Tendenzen in hohen politischen Kreisen. Ihr Geist ist noch wach aber es wird offensichtlich, dass sie schwankt, unentwegt Informationen aufsaugt, wie jemand der das Leben mal sehr geliebt hat und nicht mehr weiß wohin mit all seinem Hunger nach Sinn.
Alojz Boban lebt in einem Gefängnis. Mitten im Zentrum von Sarajevo unweit des Regierungshauptsitzes, umsäumt von Straßencafes, die diesem Teil der Stadt das berühmte Wiener Flair verleihen, steht ein sanierter, weißer Häuserblock. Im ersten Stockwerk liegen Büros bosnischer und ausländischer Firmen. Die hellen Steinstufen führen durch eine hohe Holztür in einen angenehm kühlen Hausflur. Ein roter Läufer verbindet die zwei Unternehmenssitze im Untergeschoss und schützt ein schwarzweißes Fliesenmosaik vor den Trittspuren ein- und ausgehender Kunden. Alojz lebt nicht, er überlebt. Als das bosnisch- deutsche Team vom ersten Arbeitstag zurückkehrt, liest man in den Gesichtern die tiefe Bestürzung über das Schicksal dieses einsamen Mannes. Als wir in einem der Büros nach dem Schlüssel fragen, ist die Frau sichtlich aufgelöst. Eine vage Idee davon, dass da unten noch jemand leben muss, scheint die Bewohner zu belasten. Um die Ecke verschwinden die verputzen Wände. Ein steile Kellertreppe führt in ein dunkles Loch. Der Vorraum steht voll mir rostigem Gerümpel und Unrat. Der Fußboden ist mit ranzigen Zeitungen bedeckt. Dahinter liegt eine Wohnungstür. Ein beißender Gestank nach Ammoniak und Fäkalien nimmt einem den Atem. Bad, Flur, Küche, in seinem Schlafzimmer ist es am schlimmsten. Vor einem großen Fernseher liegt eine eingefallene Gestalt mit bärtigem Gesicht und strähnigem Haar, zieht geistesabwesend an einer Zigarette und starrt mit glasigen Augen auf die Mattscheibe.
Eine Studentin, die ihn über ein Jahr lang zwei mal pro Woche besuchte, erzählte mir, dass er früher eine Fahrradwerkstatt besaß, ein reges Sozialleben hatte, sich gern mit Freunden im Kaffe traf, sich für Literatur und klassische Musik interessierte. Seid 2 Monaten kommt er nur noch auf Toilette, wenn ihn zwei Personen stützen. Seine Knie sind kaputt. Manchmal bringt ihm jemand etwas zu essen vorbei. Pflege und medizinische Versorgung bekommt er nicht. Seine Notdurft verrichtet er in Tüten und anderen Behältnissen, die er vom Bett aus erreichen kann. Früher kam noch regelmäßig eine Frau, die ihm die Haare schnitt oder alte Bekannte um ein Bier mit ihm zu trinken. Während wir da waren, kam keiner. Von der Studentin erfuhr ich außerdem, dass Alojz seine Wohnung auf einen Investor überschreiben wollte, da die Innenstadtlage durchaus begehrt sei. Dieser sollte sich im Gegenzug bis zu seinem Ableben um die Versorgung des alten Mannes kümmern. Das Geschäft sei allerdings nie zustande gekommen. Hinter der Haustür steht eine Küchenzeile, die nach der Explosion der eingebauten Friteuse, unter einer Schicht ranzigen Fettes vermodert. Darauf liegt öliges Werkzeug und verrostetes Geschirr. Die Waschzelle ist ein schwarzes, schimmeliges Loch an einer Stelle, wo vor zwei Jahren noch eine Einbaubadewanne stand. Was in der Zwischenzeit damit passiert ist, weiß niemand. Die provisorische Küche ist übersäht mit verwesenden Essensresten. Das Bett ist in einem menschenunwürdigen Zustand.
Die Gruppe versucht möglichst viel in Stand zu setzen, aber mit einem zufriedenen Gefühl ist diese Wohnung nicht zu verlassen. Etwas unsicher frage ich Alojz, ob ich ein Bild von ihm machen kann. Er nickt und richtet sich etwas auf, um an meinem Arm ein paar Schritte bis zu einem Holzstuhl zu gehen. Ich drücke den Auslöser und zeige ihm das Foto. Vor mir sitzt ein gebrochener Mann. An seiner Reaktion kann ich erkennen, dass er seit Monaten nicht mehr in sein eigenes Antlitz geblickt hat. Er wirkt schockiert und gebietet mir mit einer Handbewegung, ihm einige seiner eigenen Bilder aus besseren Tagen zu holen. Mit frischem Scheitel und sauberem Hemd sitzt er in einer geselligen Runde, das Glas gegen den Fotographen in die Luft gestreckt. Ich glaube, er hat etwas verstanden, etwas Realität ist in sein Gefängnis eingedrungen. Er fragt nach Seife und Rasierer. Ich bringe ihm eine kleine Plastikschüssel mit Seifenwasser und eine frische Klinge. Er greift in die Schublade seines Nachtschränkchens und holte einen kleinen Taschenspiegel hervor. Langsam beginnt er sich die langen Stoppeln vom Kinn zu kratzen.
Anđa Sikimić ist eine Institution. Sie hat ihren festen Platz in einem kleinen Cafe in einem Hinterhof im Stadtzentrum Sarajevos. Jeden Vormittag tritt sie aus ihrer kleinen Stube auf die Straße und schwankt die paar Schritte bis zu ihrem Aluminiumstuhl. Unterm Arm trägt sie einen kleinen Kochtopf, vielleicht etwas Brot und wartet, dass ihr die junge Kellnerin ein Glas Wasser bringt. Natürlich aufs Haus. Heute werden viele Leute vorbeikommen, kurz stehen bleiben, ein paar Worte wechseln, sich freuen, dass es so jemanden gibt. Jemanden, der immer da ist. Man könnte sagen es ist ihr Glück, dass sie auf diese Weise noch ein bisschen am Leben außerhalb ihrer vier Wände teilhaben kann. Beobachtet man allerdings die Reaktion der Menschen, die diese alte Dame kennen gelernt haben, merkt man, dass ihr Verhältnis zur Welt ein symbiotisches ist. Als das bosnisch-deutsche Team am zweiten Tag die Wohnung Anđas aufsucht, ist die Einfahrt zugeparkt. Ein schick gekleideter, bulliger Mann, verlässt eine schwarze Limousine der oberen Preisklasse und entfernt sich schnell in Richtung Hinterhof. Unsere Teamleitung kann kaum Schritt halten, als sie versuchen ihm zu erklären, dass sie unbedingt den zugestellten Platz benötigen um Werkzeug und Material für eine Renovierung anzuliefern. Der Mann ist nicht interessiert und erklärt, dass sie sich ja noch mal melden könnten, wenn es wirklich dringend sei. Anđa sitzt auf ihrem Platz. Der Mann hält plötzlich inne. „Ein deutsches Team in Sarajevo?“. Wo werde den renoviert, möchte er wissen. Das Team deutet auf die Wohnung der alten Dame. „Anđa“, sein Gesicht verzieht sich zu einem breiten Lächeln. Er macht wortlos kehrt, setzt sich in seinen Wagen und parkt ihn irgendwo ein paar Straßen weiter.
Anđa Sikimić ist in einer Großfamilie mit neun Brüder und acht Schwestern aufgewachsen. Das macht es schwierig; allein zu leben. Sie und ihr verstorbener Ehemann haben einen Jungen adoptiert, der mittlerweile fünfunddreißig Jahre alt ist, etwas entfernt wohnt und nicht sehr häufig bei ihr sein kann. Der Rest ihrer Familie lebt in Kroatien. Aufgrund ihres Alters von über achtzig Jahren sind fast alle ihrer engeren Bekannten bereits verstorben. Ihr treuster Gefährte ist seit dem eine Katze, die sie trotz ihrer geringen Rente und ihrer eingeschränkten Sehfähigkeit liebevoll umsorgt. Ihre winzige Wohnung mit den riesigen Decken kann sie soweit es ihr Augenlicht zulässt in Stand halten. Ein bisschen einsam ist sie schon und tiefgehende Gespräche mit engen Freunden fehlen ihr. Aber sie nimmt eben doch noch teil, beobachtet gern die Menschen, die unter den roten Sonnenschirmen ihren Kaffe schlürfen oder hört ihrer Unterhaltung zu. Sie sind im Stress, müssen noch wo hin, freuen sich auf Etwas, oder Etwas lässt sie nicht los. Anđa ist eigentlich immer gleich. Und das schätzen die Leute die sie ins Herz geschlossen haben.